U. Wendler: Nicht nur Pest und Pocke

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Titel
Nicht nur Pest und Pocken. Zur Bevölkerungsgeschichte der Lüneburger Heide, des Wendlandes und der Marschen des Fürstentums Lüneburg 1550–1850


Autor(en)
Wendler, Ulf
Reihe
Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 128; Schriften des Freilichtmuseums am Kiekeberg 64
Erschienen
Hannover 2008: Verlag Hahnsche Buchhandlung
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Regula Gerspacher

Das zwischen Hamburg und Hannover gelegene Fürstentum Lüneburg ist in der historischen Demographie kein unbeschriebenes Blatt. Bereits 1954 veröffentlichte Erich Woehlkens eine bekannte Studie über die im Zentrum des Fürstentums liegende Stadt Uelzen, in der er die Verhältnisse in der 2. Hälfte des 16. und im frühen 17. Jahrhundert und dabei besonders die Wirkung der Pestepidemien beleuchtete.1

Eine umfassendere Studie zur frühneuzeitlichen Demographie der ganzen Region ist nun von Ulf Wendler verfasst worden, dem Stadtarchivar von Chur. Auch bei ihm spielen Seuchen eine bedeutsame Rolle. Die anhand des norddeutschen Beispiels gewonnenen Ergebnisse sind auch auf die historische Demographie anderer Regionen anregend.

Im Fürstentum Lüneburg kennzeichnete die Jahre zwischen 1550 und 1620 eine rasche Bevölkerungszunahme, die immer wieder durch starke Seuchenzüge unterbrochen wurde. Über den ganzen Zeitraum gesehen, resultierte daraus insgesamt nur ein schwacher Bevölkerungsanstieg: Die Epidemien wirkten als wirksame Regulatoren des Wachstums. Während des Dreissigjährigen Krieges nahmen die Seuchen verheerende Ausmasse an. – Die Region verlor massiv an Einwohnern. Gegen Ende des Krieges lebten im Fürstentum etwa zehn Prozent weniger Menschen als zu Beginn.

Die Zahl der Menschen in den Städten war starken Schwankungen unterworfen. Dies verdeutlicht der Autor in den Graphiken dadurch, dass er bei den aufgrund der Steuerregister gemachten Schätzungen der Einwohnerzahl mögliche Bandbreiten angibt. Die Steuerregister sind nur ein unzureichender Notbehelf zur Ermittlung der Bewohner einer Stadt. Sie geben die massiven Schwankungen der Zahl der Menschen in den Orten kaum wieder, konnte doch die Bevölkerung innerhalb kurzer Zeit um rund ein Drittel abnehmen bzw. schnell wieder wachsen. Eine lineare Darstellung der Entwicklung, wie sie die Entwicklungen in den letzten Jahrhunderten angemessen abbilden, entspricht nicht der Realität vor 1650.

Nach der Mitte des 17. Jahrhunderts trat die Pest nur noch vereinzelt im Fürstentum Lüneburg auf. Weil der bisherige Regulator des Bevölkerungswachstums fehlte, nahm zwischen 1650 und 1720 die Einwohnerschaft bis zur Grenze der Tragfähigkeit zu. Hier wird die grosse Bedeutung der Pest offensichtlich, die ein wichtiger Faktor in der demographischen Entwicklung war. Dieses Ergebnis betrifft wohl nicht nur das Fürstentum Lüneburg.

In der Mitte des 18. Jahrhunderts stagnierte die Bevölkerungszahl für fünfzig Jahre, bevor nach 1770 ein starkes Wachstum einsetzte, welches sich im 19. Jahrhundert fortsetzte. Es ist bemerkenswert, wie spät in der Region die Grenze der Tragfähigkeit erreicht wurde und dass sich die Bevölkerung lediglich für ein halbes Jahrhundert in einem immer wieder gefährdeten Gleichgewicht befand. So verwundert es nicht, dass die Anpassung an diese neue demographische Situation nur unzureichend gelang. Die Bevölkerung war auf Wachstum ausgerichtet, doch angesichts der begrenzten Ressourcen konnten schon leichte Verschlechterungen beim Wetter bzw. bei den Ernteausfällen und den Preisen für Grundnahrungsmittel schnell zu erhöhten Sterblichkeiten führen.

Dagegen lassen sich für die Zeit davor und danach keine solchen demographischen Wirkungen ermitteln. In der frühen Neuzeit reichten Missernten alleine nicht aus, um grosse Sterblichkeitskrisen auszulösen. Es war zusätzlich notwendig, dass die Menschen in den Dörfern und Regionen die Ressourcen ihrer Umgebung bis an die Grenze ausnutzten, so dass negative Veränderungen verheerende Folgen haben konnten. So relativiert die anregende Studie von Wendler für eher schwach besiedelte Regionen zu einem gewissen Grade die unmittelbaren Auswirkungen von Missernten und Teuerungen, von Klima und Wetter auf die Bevölkerung in der frühen Neuzeit.

1 Erich Woehlkens, Pest und Ruhr im 16. und 17. Jahrhundert. Grundlagen einer statistischtopographischen Beschreibung der grossen Seuchen, insbesondere in der Stadt Uelzen, Uelzen 1954 (Veröffentlichungen des Niedersächsischen Amtes für Landesplanung und Statistik, Reihe A II, 26; Schriften des niedersächsischen Heimatbundes e.V., Neue Folge, 26).

Zitierweise:
Regula Gerspacher: Rezension zu: Ulf Wendler: Nicht nur Pest und Pocken. Zur Bevölkerungsgeschichte der Lüneburger Heide, des Wendlandes und der Marschen des Fürstentums Lüneburg 1550–1850. Hannover, Verlag Hahnsche Buchhandlung, 2008. (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 128; Schriften des Freilichtmuseums am Kiekeberg 64). Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 2, 2010, S. 266-267.

Redaktion
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 60 Nr. 2, 2010, S. 266-267.

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